Yaşar Kemal der „Sänger seines Volkes“ verstarb am letzten Samstag, den 28. Februar 2015, in Istanbul. Aufmerksam auf ihn und sein Werk wurde ich, als 1990 im Reiner Feest Verlag Ismail Gülgecs Comicadaption von "Ince Memed / Memed, mein Falke" erschien. Kurz dauarf erschien bereits ein zweiter Band bei Feest und dann verkaufte Reiner den Verlag an Ehapa und die Reihe wurde hierzulande nicht weiter forgesetzt. Aber immerhin entdeckte ich so auch das Original, den Autor Yaşar Kemal, dessen Tod ein herber Verlust für sein Volk und die Fans weltweit ist.
Yaşar Kemal Kemal Gökceli erblickte „wahrscheinlich“ 1923 im Flecken Hemite, in der südtürkischen Provinz Adana, das Licht der Welt: „Die Nomaden bei uns in der Çukurova kehrten gegen Ende Oktober von ihren Sommerlagern zurück. Zu dieser Zeit ungefähr muss ich auf die Welt gekommen sein.“ Der Vater wird während eines Gebetes in der Moschee ermordet, als er knapp viereinhalb Jahre alt ist. Der Mörder ist ein Familienangehöriger, Kemal sitzt direkt neben seinem Vater und sieht alles mit an. Der Schock sitzt tief: „Von da an begann ich zu stottern. Nur wenn ich sang, kamen mir die Worte widerstandslos über die Lippen. Und erst mit etwa elf Jahren, als ich lesen und schreiben gelernt hatte, hörte es allmählich wieder auf.“ Bereits mit neun Jahren ist »Kemal der Barde« als Sänger und Geschichtenerzähler unterwegs. Schon mit seinen frühen Reportagen und Kurzgeschichten sorgte Yaşarr Kemal in der Türkei für Aufsehen. Eine erste Sammlung seiner Kurzgeschichten erschien dann 1952, fünf Jahre später. Doch erst mit der Veröffentlichung von „Ince Memed“ (dt. „Memed mein Falke“) sorgt er auch international für Aufsehen (verfilmt mit Sir Peter Ustinov als „Abdi Aga“, das Foto mit ihm und Yaşar Kemal entstand 1986 in Paris). „Memed“ ist der aussergewöhnliche Roman um einen Outlaw, der die Demütigungen der lokalen Oberschicht eines Tages nicht mehr erträgt und zum „Robin Hood“, zum Helden der armen Leute in den ländlichen türkischen Provinzen wird. Kemal schildert diese Wandlung vom unterdrückten Individuum, das von allen nur Missachtet wird, ob seines Schicksals verzweifelt, zur Waffe greift und zum „Mörder“ („Rächer“) wird, mit so viel Einfühlungsvermögen, wie es nur jemandem möglich ist, der selbst in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen ist. All seine Sympathien liegen eindeutig auf Seiten der armen Bauern und Tagelöhner. „Memed“ brach beim Erscheinen 1955 sofort sämtliche Verkaufsrekorde in der Türkei und wurde bereits in den 1950ern auf Initiative des internationalen PEN und mit Unterstützung der UNICEF in viele Sprachen übersetzt. Seitdem gab es nicht nur drei weitere „Memed“-Romane, Ehrungen und Auszeichnunmgen - u.a. den „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ (1997), die Aufnahme als Commandeur in die französische Ehrenlegion (1984), als „Commandeur des Arts et des Lettres“ (1988), oder auch den „Hellman-Hammett Award for Courage in Response to Repression“ (1996) -, in der Heimat, auf den Basaren und in den Kaffeehäusern wurde ihm ausserdem eine einzigartige Ehre Zuteil:„Vor einiger Zeit war ich in einem Dorf in Thrakien, und da hielt sich gerade ein berühmter Wandersänger auf. Er hatte für den Abend »Geschichten von Memed, dem Falken« angekündigt. Wir gingen hin – und was er erzählte, war unendlich viel schöner als das, was ich geschrieben hatte!“ Wer seine Romane liesst wird dies kaum für möglich halten, zeichnen diese sich doch besonders durch ihre „Farbenpracht“ und Lebendigkeit aus: „In meinen Romanen will ich zeigen, dass der Mensch nicht nur in der realen Welt lebt, die er um sich herum sieht, die er berührt, sondern auch in seinen Träumen, die er sich schafft. Beide Welten sind unendlich, und beide sind unauflöslich miteinander verwoben.“ Dabei fehlt es Kemal und seinem Werk keinesfalls an Realität und realem Hintergrund. Schon frühzeitig setzt er sich engagiert gegen die Verfolgung der Kurden ein und stellte bis zu seinem Tod immer wieder unbequeme Fragen: „Wie kann es in einem Land, in dem sechzig Millionen Menschen leben, wovon zwanzig Millionen Kurden sind, immer problematisch sein, in kurdischer Sprache zu unterrichten, und das obwohl der Staat Türkei einst von beiden Völkern gemeinsam gegründet wurde?“ Sein Engagement bringt ihn immer wieder in Konflikt mit der staatlichen Obrigkeit und ins Gefängnis: „Das ist wohl eines der überraschendsten Merkmale der Schriftsteller meiner Generation. Es gibt praktisch keinen, der nicht durchs Gefängnis gegangen ist.“ „Hikmat war 17 Jahre im Gefängnis, Kemal Tahir 15 Jahre, Aziz Nesin 5 Jahre.“ „Ich selbst war dreimal im Gefängnis. Das erste Mal mit 17 Jahren, dann wieder 1950, als ich gefoltert wurde. 1971 wurde ich wieder festgenommen, aber nach vielen internationalen Protesten wieder freigelassen. Es gibt keinen Zweifel – das Gefängnis ist die Schule der türkischen Gegenwartsliteratur.“ Dennoch liess er sich nicht unterkriegen und blieb zeitlebens Standhaft bei seinen Überzeugungen und behielt dabei in allen seinen Äusserungen und Werken eine positive „Aufbruchs-“ Stimmung bei, die ansteckt und mitreisst. Aus allen seinen Werken spricht dabei eine tiefe Liebe zu den (Mit-) Menschen und zur Natur, wie sie besonders in der heutigen, schnell-lebigen Zeit leider viel zu selten ist: „Ich kenne die Çukurova-Ebene wie meine Hosentasche, ihre Natur, ihre Menschen, ihre Probleme. Ein erregendes, grossartiges Stück Erde. Alle Kontinente haben zu ihrer Kultur beigetragen: die Hethiter, die Prygier, die Kreter, die Griechen, Römer, Byzantiner, Seldschuken, Kaukasier, Zigeuner…“ und führt weiter aus: „Natur ist kein »Hintergrund«. Sie ist für den Menschen wie das Blut in seinen Adern, ihre Wärme ist auch seine Wärme, ihre Lebenskraft ist auch für ihn Lebenskraft. Was der Mensch der Natur antut, das tut er sich selber an!“ Wer bislang noch nichts von Yaser Kemal gelesen hat, sei versichert, dass diese Entdeckung sich lohnt. Kemals Erzählungen spielen zwar vordergründig auf dem kargen Land, in den Bergen der türkischen Provinz - oder in der Metropole Istanbul - doch abgesehen von den spannenden und faszinierenden Geschichten, hat sein Werk dabei enorme Tiefe und nachhaltig Bestand. Seit Jahrzehnten war Yaşar Kemal als „Sänger seines Volkes“ bekannt - zurecht!